Die Autorin sitzt vor einem großen Mohnfeld. Im Bild die Überschrift "Ich will vermisst werden!"

Ich will vermisst werden!

„Es ist schön zu wissen, dass ich vermisst werde.“

Das stand in der Mail einer Bloggerfreundin, bei der ich nachfragte, ob bei und mit ihr alles in Ordnung sei. Ich hatte sie nicht so häufig wie gewohnt in unserer Blogger-Community The Content Society wahrgenommen. Und wir waren gerade in ein lockeres Blog-Buddy-Verhältnis getreten, das beinhaltet, dass wir gegenseitig unsere Artikel lesen, bevor sie an die große Öffentlichkeit gehen. Auf meine Mail vor einigen Tagen hatte sie nicht geantwortet. Gestern kam nun die Erklärung, die mit diesem Satz endete: „Es ist schön zu wissen, dass ich vermisst werde.“

Mich berührte der Satz so sehr, dass ich spontan einen Artikel darüber schrieb.

Was bedeutet vermissen?

Vermissen heißt, dir fehlt etwas oder jemand. Ist es eine geliebte Person, wird das Vermissen häufig mit Sehnsucht gleichgesetzt. Seid ihr nicht zusammen, kann das schmerzlich sein, vor allem in der Zeit der ersten Verliebtheit.

Du kannst Freunde vermissen. Menschen, an deren Gegenwart du dich gewöhnt hast, die zu deinem Leben gehören. Kollegen, Nachbarn, die Bäckereiverkäuferin. Meist siehst du die Menschen in bestimmten Intervallen und fühlst eher, dass es jetzt ungewöhnlich lange her ist, seit du die Person zuletzt gesehen hast. Je nach innerer Nähe zwischen dem anderen Menschen und dir ist das Vermissen unterschiedlich stark ausgeprägt. Eine Freundin lange nicht zu sehen kann schmerzlich sein, einem Nachbarn wochenlang nicht zu begegnen fällt auf, ist aber emotional eher unbedeutend.

Du kannst Orte und Dinge vermissen. Eine frühere Wohnung, ein bequemes Bett, eine funktionierende Waschmaschine. Ein Kleidungsstück, dass du zu Tode geliebt hast. Oder Essen: In meiner Zeit in England lernte ich einen deutschen Kommilitonen kennen, der sein ganzes Auto mit Lebensmitteln aus Deutschland gefüllt hatte: Brot, Würste, Naschereien. Aus Sorge, er könnte in England das heimische Essen vermissen.

Essen kann auch etwas sein, das wir vermissen

Was und warum vermissen wir?

Wir vermissen, weil uns etwas fehlt, womit wir uns verbunden fühlen. Der Mensch möchte verbunden sein. Ohne Verbundenheit haben wir keine Orientierung. Selbst Menschen, die sehr gut allein sein können und es gern sind, leben meist verbunden. Anders. Nicht so körperlich. Aber auch. Was wir vermissen, kann sehr unterschiedlich sein, und womit oder mit wem wir uns verbunden fühlen, auch.

Es gibt dieses grauenhafte Experiment des Psychologen René Spitz von 1940. Babys wurden mit Nahrung und allem, was zum nackten Überleben nötig war, versorgt. Menschliche Interaktion wie Lächeln, Winken, Spielen fanden bewusst nicht statt. Die Babys entwickelten sich nicht richtig, einige starben. Mit zunehmendem Alter sind die Auswirkungen des Nicht-Verbundenseins anders krass: das Risiko von Herz- und psychologischen sowie vieler anderer Erkrankungen ist bei einsamen Menschen wesentlich höher als bei denen, die in einem (nährenden) Verbund leben.
Wir Menschen sind nicht für die totale Einsamkeit gemacht. Schon aus frühesten Übermittlungen lernen wir von Höhlen, in denen Menschen ihre Kinder im Verbund großzogen, versorgt von anderen, die in Gruppen jagten.

Wir fühlen uns zuhause, wenn uns der Geruch von Mamas Apfelkuchen empfängt. Der Geschmack von rohem Rhabarber, in Zucker getaucht, macht uns ein heimeliges Gefühl von Omas Garten. Solche Erinnerungen bewirken, dass wir uns ganz fühlen. Geborgen, verbunden. Und wir vermissen sie, wenn sie nicht mehr sind. Die Gerüche, die Geschmäcker und die Menschen, mit denen wir sie assoziieren.

Menschen, die nicht von Herzen vermisst werden

Und doch gibt es Menschen, die anders ticken, die sich nicht verbinden können. Und die nur auf sehr niedrigem Niveau vermisst werden. Weil eine Gewohnheit nicht eingehalten wird. Es hat ihretwegen aber niemand Herzschmerz.

Die Großmutter meiner Tochter, Mutter ihres Vaters, war eine spezielle Person. Während ich mit ihrem Enkelkind schwanger war, ignorierte sie mich und die sichtbare Schwangerschaft (mein Kind spielte manchmal Fußball in meinem Bauch). Nur direkt am Tag der Geburt meiner Tochter, kam die Großmutter schon in den Kreißsaal und brachte mir Nostalgie-Rosen, die ich so sehr mag. Und freute sich unbeschreiblich. Außer diesem sehr emotionalen Moment war danach nichts mehr. Nie wieder. Ich versuchte, eine Bindung zu unterstützen, aber es passierte nichts zwischen meiner Tochter und ihr. Sie hatte in ihrer Wohnung Dinge für ihr Enkelkind genäht, gestrickt, von denen ich gar nichts wusste. Wenn wir mit ihr zusammen waren, hielt sie mein Kind wie eine Puppe, schuckelte es (ich hasse Schuckeln, mein Kind auch, es brüllte dann immer) und war zu keiner echten Interaktion fähig. Kurzum: irgendwann gaben wir auf, wir hatten keinen Kontaktmehr. Auch ihr Sohn nicht.
Vor sieben Jahren erreichte uns die Nachricht von ihrem Tod. Nachdem eine Nachbarin sie wochenlang nicht gesehen hatte, rief sie die Polizei, die meine Schwiegermutter tot in ihrer Wohnung vorfand. Das war offenbar der intensivste Kontakt, den sie hatte. Ich finde das unendlich traurig.

Mit einem Bekannten ging ich, vor allem während des ersten Lockdowns, lange und häufig spazieren. Gelegentlich machten wir Radtouren. Voraussetzung war, dass ich danach fragte, die Routen plante und anführte. Initiative zeigen kann er nicht. Er freute sich jeweils, wenn ich einen Vorschlag machte, und kam bereitwillig mit. Während unserer Ausflüge fiel mir immer mehr auf, dass ich mein intensives Naturerleben nicht im Ansatz mit ihm teilen konnte und sonst auch eigentlich nichts. Für ihn war jeder Weg im Grünen irgendein Weg im Grünen und ein Baum ein Baum. Er lief meist vor mir, und selbst wenn er hörte, dass ich nicht mitkam oder gar stolperte, drehte er sich nicht um. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart unendlich einsam und zog es irgendwann vor, allein mit mir und meinem intensiven Erleben unterwegs zu sein. Vor einigen Tagen fragte mich eine Freundin, ob ich etwas wüsste, er sei so lange zu einem ehemals gemeinsamen Verein nicht gekommen und habe sich nicht abgemeldet. Ich war die einzige Person, die eine Zeitlang privat mit ihm verkehrte. Jetzt mache ich mir Sorgen. Seine Eltern leben nicht mehr, zur Verwandtschaft besteht kein Kontakt.
Auch er wird gerade mal so vermisst, dass bemerkt wird, er ist nicht da.

Solche Momente teile ich gern, aber nicht um jeden Preis

Wir werden vermisst, weil wir besonders sind. Und weil wir verbunden sind.

Es ist deine und meine besondere Art, die dafür sorgt, dass wir vermisst werden, wenn wir nicht da sind. Die Einzigartigkeit, mit der wir uns mit anderen verbinden, mit der wir uns zeigen. Dass wir uns öffnen, ehrlich zu uns selbst und anderen sind, in wertvollen Kontakt treten. Darüber schreibe ich gern. Und es ist das Geben. Freundlichkeit, Offenheit, Spaß, Zuhören, Teilen, Mitfühlen, Wertschätzen. Unser Gegenüber sehen. Verbunden sein in Musik, Sport, Humor, gemeinsamer Arbeit, was auch immer. Meine beiden Beispiel-Charaktere sind oder waren nicht in der Lage, tiefe Verbindungen einzugehen. Die Schwiegermutter beklagte sich, dass niemand erriet, was sie sich wünschte, kommunizierte es aber nicht vorher. Der Bekannte verhielt sich distant und konnte sich nicht öffnen. Beide kreis(t)en in erster Linie um sich selbst, ob aus Ignoranz oder aus Veranlagung.

Mir passiert das auch immer mal. Ich kreise um mich selbst, besonders wenn ich einen Rückschlag erlitten habe. Wenn ich nicht mehr weiter weiß, wenn mir alles zu viel ist. Dann lecke ich für eine Weile meine Wunden, pflege meine Seele, ruhe mich aus und schöpfe neue Kraft. Und sobald ich wieder klar denken kann – normalerweise geht das sehr schnell – bin ich wieder präsent. Mir ist es wichtig, verbunden zu sein. Mit mir selbst und anderen.

Ich will vermisst werden!

Das Denken an diese beiden Menschen zeigt mir, dass ich so auf keinen Fall leben oder sterben möchte. Es müssen nicht pausenlos Freunde anrufen, schreiben oder vor der Tür stehen. Ich schaffe es gar nicht, sehr viele Freunde zu haben oder in vielen Vereinen zu sein. Aber ich will Spuren hinterlassen. Ich will für einige Menschen wertvoll sein und von ihnen vermisst werden, wenn ich mich zurückziehe oder sterbe. Niemand soll sich ewig grämen. Aber es wäre schön annehmen zu können, dass eine Freundin lacht, wenn sie an einen Nachmittag mit mir denkt. So wie ich es auch tue, wenn ich an sie denke. Oder wie der Klassenkamerad, der mir beim ungezählten Abi-Jubiläum sagte, an einen Kuss denkt, der zumindest mit 16 so spektakulär war, dass er sich ins Gedächtnis eingebrannt hat (mir auch). Ich wünsche mir, dass in einem Verbund, von dem ich Teil bin, zwar keine unschließbare Lücke entsteht, wenn ich fehle, aber schon z.B. meiner speziellen Art, meiner Unterstützung, meiner Kochkünste, die ich gern teile, meiner kreativen Lösungen gelegentlich gedacht wird.

Wir können viel dafür tun vermisst zu werden.

Diesen Artikel könnte ich episch gestalten und vielleicht fehlt dir noch etwas. Lass es mich gern wissen, dann habe ich gleich eine neue Artikel-Idee.


Dieser Artikel er ist an Tag 3 der Sommer-Blodekade 2022 fertig geworden. Seit dem 21.08.2022 schreiben viele Bloggerinnen in TheContentSociety innerhalb von zehn Tagen bis zu zehn Blogartikel. Für mich ist es die dritte Blogdekade, und ich liebe diese rauschhafte Schreiberei ohne Perfektionismusgedanken (na, fast ohne). Wenn du meine und andere Artikel dazu lesen willst, findest du sie unter #blogdekade auf Instagram und Facebook. Viel Spaß dabei!

6 Kommentare zu „Ich will vermisst werden!“

  1. Liebe Silke,
    so ein schöner, berührender Artikel! Ich mag sehr, was du alles über Vermisstwerden und Verbundenheit zutage gefördert hast. Danke für diesen Text.
    Ganz liebe Grüße
    Viktoria

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