Eine Frau, ein Gesamtkunstwerk – Lorenza Böttner

Heute schreibe ich über Kunst, vielmehr über die Künstlerin Lorenza Böttner als Gesamtkunstwerk. Zum Beitrag inspiriert bin ich durch die Blogparade von Sandra Stops Kunst von Frauen – mein liebstes Kunstwerk. Vor wenigen Tagen schickte mir meine Freundin Heike mehrere Artikel über unsere frühere Schulkameradin Lorenza Böttner, damals noch Ernst oder Ernesto. Ein wunderschöner Mensch mit wunderschönem Wesen und einer unglaublichen Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten. Einen kleinen Bruchteil seiner/ihrer Arbeiten stelle ich dir im Artikel vor.

Über welches Kunstwerk schreibe ich?

Ich schreibe über das menschliche Kunstwerk Lorenza Böttner. In der integrierten Gesamtschule Hessisch Lichtenau lernte ich gemeinsam mit und von sehr unterschiedlichen Menschen. Lorenza, damals Ernesto genannt, fiel mir zuallererst durch seine Schönheit auf. Leuchtend blaue Augen, ein sehr markantes Gesicht, das trotzdem eine gewisse Weichheit zeigte. Langes, welliges, dunkelblondes Haar, das glänzend auf seine schmalen Schultern fiel. Und nach den Schultern war zu den Seiten hin Schluss: Ernesto hatte keine Arme.

Als kleiner Junge, damals noch in Chile, kletterte er auf einen Strommasten, um ein Vogelnest auszurauben. Er erzählte mir, er habe sich so sehr ein Vögelchen gewünscht. Oben kam er ins Straucheln, hielt sich reflexhaft an den Hochspannungskabeln fest. Er bekam einen Stromschlag, wurde weit weggeschleudert. Durch diesen schrecklichen Unfall verlor er beide Arme. Seine Mutter ging mit ihm nach Deutschland, um ihm dort die bestmögliche ärztliche und schulische Versorgung zu bieten. Er wurde mehrfach plastisch operiert. Armprothesen lehnte er ab.

Was mich an Lorenza Böttner besonders fasziniert und berührt

Mich fasziniert, dass sich Lorenza in ihrem recht kurzen Leben eine so große Vielfalt an künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten erschlossen hat. Mich berührt, dass ich sie kennenlernen durfte. Mich schmerzt jedes Mal, wenn ich Kunstwerke von ihr oder Berichte über sie sehe, dass ich sie kennenlernen, ihren Werdegang jedoch nicht miterleben und -begleiten durfte.

Es bewegt mich, dass sie schon in unserer gemeinsamen Schulzeit keine festgelegte Geschlechtsidentität für sich akzeptierte. Es beeindruckt mich, dass sie den Mut und die Wut aufbrachte, sich gängigen gesellschaftlichen Vorstellungen entgegenzustellen. Sie ließ sich nicht auf ihre körperlichen Einschränkungen reduzieren. Die Geschlechtslosigkeit, die Behinderten häufig automatisch zugeschrieben wurde, war für sie zu keiner Zeit eine Option.

Was ich im Nachhinein erst erfahren habe, hauptsächlich durch die Informationen um die documenta 14 herum: Lorenza kämpfte ihr Leben lang für Diversität, Aufweichung von gesellschaftlichen Schubladen. Sie inszenierte sich als lebende Performance, während sie sich andererseits, wenn es ein Auftrag gebot, in Rollen pressen ließ. Zum Beispiel, um 1992 das Maskottchen der para-olympischen Spiele, PETRA, zu verkörpern. Das Kunstmagazin artline setzt sich im Artikel „Requiem für die Norm“ sehr differenziert mit Lorenza Böttners innerem und äußerem Kampf auseinander.

Meine persönlichen Erinnerungen an die Künstlerin Lorenza Böttner

Als Ernesto kam die spätere Lorenza 1973 nach Lichtenau. Damals lebten im sogenannten Internat der Orthopädischen Klinik Hessisch Lichtenau Menschen mit diversen Behinderungen. Lorenza wurde wegen ihrer fehlenden Arme kurzerhand den Contergan-Kindern zugeordnet. Nicht behinderte und behinderte Jugendliche besuchten gemeinsam die Freiherr-vom-Stein-Schule in Hessisch Lichtenau. 1975 zogen meine Eltern dorthin um, und ich ging auch auf diese Schule. Ernesto lernte ich auf dem Schulhof kennen, wir waren in unterschiedlichen Jahrgängen. Ich war vollkommen fasziniert von ihm, seiner kraftvollen und häufig wütenden Kreativität.

Er malte, manchmal ruhig und konzentriert, dann wieder wie besessen, mit dem Mund, mit den Füßen; alles um ihn herum war Kunst. Seine Kaftans, selbstverständlich auch kunstvoll bemalt, betonten die geschmeidigen Bewegungen seines wunderschönen Körpers. Du liest es wahrscheinlich aus meinen Zeilen: ich war glühend verliebt. Ich sah und erlebte Ernesto als das, wofür er kämpfte, es sein zu dürfen: als sexuellen und überaus verführerischen Menschen. Ich war noch sehr jung damals, aber ich erinnere mich heute noch an unsere unglaublichen Küsse und die Nähe, die wir zeitweise hatten und genossen.

Er war kein Mensch für eine klammerige Junge-Mädchen-Beziehung, er strebte danach, sich weiterzuentwickeln. Sich nicht als geschlechtslosen Behinderten abstempeln zu lassen, seine geschlechtliche Identität auszuloten und zu leben. Dafür kapselte er sich über Jahre ab, hatte nur zu einer einzigen Person Kontakt, mit der ich ihn Jahre später immer wieder sah. Offenbar brauchte er den Rückzug, um sich später als wunderschöne Lorenza immer wieder neu zu erfinden.

Über welches Kunstwerk der Künstlerin ich schreiben möchte

Als ich 2014 die documenta 14 besuchte, reservierte ich mir Zeit für Lorenza Böttners Einzelausstellung. Ich lernte durch die Bilder und die Erklärungen dazu, welch schmerzhaften Weg Lorenza gegangen ist, dass ihr gesamtes Leben ein durchgängiges Sich-Aufbäumen gegen feste Zuordnungen war. Wie sie umging mit ihrer körperlichen Einschränkung, dem Leben ohne Arme. Und noch viel mehr, wie sie als fluides Wesen gegen alle Widerstände nicht aufhörte, die ignorante Gesellschaft aufzurütteln. Wie sie auf die Entsexualisierung und Internierung Behinderter, die Transgender-Bewegung und die Anerkennung von Mund- und Fußmalerei als künstlerisches Genre aufmerksam machte.

Das aus Fußabdrücken geformte Riesenportrait von Lorenza Böttner zeigt ein tendenziell männliches Gesicht mit weichen Lippen, großen Augen mit blauem Lidschatten.
Foto: Andreas Fischer*

Besonders beeindruckt hat mich bei der documenta 14 das riesig große Selbstportrait, das Lorenza aus Fußabdrücken geformt hat. Es ist ca. 5 Meter breit und 6 bis 7 Meter hoch. Ich kannte sie, damals noch ihn, aus der Schulzeit, in der sie eigentlich ständig und hartnäckig Kunst schuf. In diesem Selbstportrait muss unvorstellbar viel Arbeit, Zeit und Vorstellungsvermögen stecken. Wie es ihr gelingen konnte, ein derart riesiges Bildnis von sich selbst mit den Füßen zu schaffen und dabei zu schattieren, die Seiten symmetrisch hinzubekommen und sich auf dem Bild anschließend noch ähnlich zu sehen, ist mir ein komplettes Rätsel.

Was ich dir von Lorenza Böttner noch zeigen möchte

Es existieren einige wenige Videos, hier als YouTube-Links, in denen Lorenza ihre Motivation und ihr Wirken zeigt und erklärt. Hier ist eins davon, ich finde es sehr beeindruckend: Wer ist Lorenza Böttner?
Ein weiteres Video, in dem auch seine Mutter zu Wort kommt und verschiedene Alltags- wie auch künstlerische Situationen dargestellt werden, ist dieses hier: Lorenza Böttner – Portrait of an Artist.
In diesem Artikel aus der Zeit der documenta 14 siehst du ganz unten Passfotos aus der Zeit, in der wir uns kannten. In meinem Haus fliegt irgendwo noch ein Fotostreifen aus einer Passbilderbox in Paris, in der wir herumgealbert haben. Sobald ich ihn finde, reiche ich ihn nach.

Die verlinkten Artikel geben einen recht guten und fundierten Überblick über Lorenza Böttners künstlerische Vielfalt. Meine persönlichen Erinnerungen liegen lange zurück und sind doch so präsent, wenn ich mich mit Lorenzas Leben und Werk befasse.

Ich bedaure zutiefst, sie dazu nicht mehr befragen zu können. Ernst Lorenz Böttner, 1955 in Chile geboren, starb als Lorenza Böttner 1994 infolge von Komplikationen seiner HIV-Infektion. Ich habe größten Respekt vor ihrem Lebenswerk.

*Das Titelbild ist – mit freundlicher Genehmigung des Fotografen – dem Artikel Lieblingskunstwerke der documenta 14 entnommen, geschrieben für die HNA von Nicole Demmer, fotografiert von Andreas Fischer. Der Artikel ist erschienen am 28.08.2017.

8 Kommentare zu „Eine Frau, ein Gesamtkunstwerk – Lorenza Böttner“

  1. Hallo Silke,
    dein Beitrag über Lorenza Böttner hat mich echt beeindruckt. Es ist schön, wie du sie und ihr Leben als Kunstwerk beschreibst. Ihre kreative Energie und der Mut, mit dem sie ihren eigenen Weg gegangen ist, sind wirklich inspirierend. Besonders toll finde ich, wie du ihre Kunst in Verbindung mit ihrer persönlichen Geschichte bringst.
    Ich habe auch an der Blogparade teilgenommen und über Lotte Laserstein geschrieben.
    Liebe Grüße
    Lea

    1. Hallo Lea,
      oh vielen Dank für deinen schönen Kommentar zum Lorenza-Artikel. Ja, sie war unermüdlich und hat sich sicher häufig total übernommen und selbst ausgebeutet bis zur Erschöpfung.
      Deinen Artikel gehe ich gleich lesen.
      Liebe Grüße
      Silke

  2. Liebe Silke

    Du findest Worte, wo andere verstummen.
    Du siehst Liebe, wo andere Unverständnis haben.
    Du gibst Raum, wo andere weggehen.
    Du konfrontierst, wo andere wegwischen.
    Du berührst mich sehr mit Deiner Darstellung.

    Für mich ist Lorenza eine wahre Künstlerin, die zu noch mehr Kunst anstiftet- z.b. deinen Artikel hier.

    Danke, dass Deine Begegnungen mit uns teilst.
    Danke, dass Du Lorenza dadurch noch mehr Menschen zugänglich machst.
    Danke für diesen Blogartikel.

    Liebe Grüsse
    Christine

    PS: Was mir ganz deutlich wird, du hast Lorenza wirklich gesehen in allen Dimensionen.

  3. Liebe Silke! Was für eine schöne Verbindung und ein stimmiger Artikel, der so vieles verbindet: Erinnerung, Dankbarkeit, Bewunderung, Kampfgeist und Wertschätzung. Mich beeindruckt das Selbstporträt – mit Füßen gemacht – ebenfalls. Danke, dass Du Dein Lieblingswerk und Deine LieblingskünstlerIn vorgestellt hast. Herzliche Grüße, Sandra

  4. Sehr, sehr bewegend, einfühlsam und schön geschrieben, liebe Silke, und kann mir alles so vorstellen, wie du es geschrieben hast – Respekt auch für deine liebenden Worte und der Hochachtung, die damit verbunden ist. Danke!

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